Lesekreis Türkische Literatur: Elif Shafak: Unerhörte Stimmen

Haus der Patriotischen Gesellschaft

Trostbrücke 4, 2. Stock
Gesellschaftsraum
20457 Hamburg
Deutschland

Einführung und Moderation: Detlef Rönfeldt (Sprecher des Lesekreises)

Bei diesem Treffen unseres Lesekreises "Türkische Literatur" am 18. Juni – dem letzten vor unserer Sommerpause – wollen wir uns noch einmal Elif Shafak zuwenden, der international mit Abstand erfolgreichsten türkischen Autorin, mit der wir uns bereits vor fast einem Jahr beschäftigt haben, als ihr früher Roman "Schau mich an" bei uns auf dem Programm stand. Diesmal wollen wir uns einem ihrer neueren Bücher zuwenden, ihrem Roman "Unerhörte Stimmen", der – 2019 in englischer Sprache geschrieben – noch im gleichen Jahr in türkischer und deutscher Übersetzung erschien.

Elif Shafak, 1971 als Tochter türkischer Eltern – einer Diplomatin und eines  Soziologieprofessors – in Straßburg geboren, wuchs in Madrid, Amman und, nach der Trennung ihrer Eltern, in Ankara auf. Sie schreibt auf Englisch und Türkisch. In Ankara hat sie Politikwissenschaften und am "Bard College" in den USA – zu dessen Studenten einst unter anderem Hannah Arendt und Saul Bellow gehörten – Geisteswissenschaften ("Humane Letters") studiert. Sie gilt durch ihre Bücher, ihren engagierten Einsatz für Freiheit, Frauen- und Minderheitenrechte und ihre beeindruckenden öffentlichen Auftritte heute als Frau, deren liberale Stimme in künstlerischen und politischen Fragen weltweit gehört und beachtet wird. Ihre inzwischen zwölf Romane sind in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt worden, werden viel gelesen und landen nicht nur in der Türkei regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Die Liste der Preise, mit denen sie als Person und Autorin ausgezeichnet wurde, ist beeindruckend lang. Ihr Roman "Das Flüstern der Feigenbäume" stand u.a. auf der Shortlist des "British Book Award", "Unerhörte Stimmen" auf der Shortlist des "Booker Award", der als der international bedeutendste Literaturpreis nach dem Nobelpreis gilt. Zuletzt wurde sie mit dem "Halldór Laxness International Literature Prize" für ihren Beitrag zur "Erneuerung der Kunst des Geschichtenerzählens" ausgezeichnet. Der Name Elif Shafak, unter dem sie schreibt, ist ein Pseudonym – zusammengesetzt aus ihrem eigenen Vornamen (Elif) und dem Vornamen ihrer Mutter (türkisch: Şafak).

Für Elif Shafaks Ambitionen, die sie immer wieder so beschreibt, dass sie den Außenseitern und Unterdrückten zumindest literarisch Gehör geben möchte, ist "Unerhörte Stimmen", ein besonders eindrückliches Beispiel. Das klingt schon im deutschen Titel an, der so schön mit der Doppelbedeutung von "unerhört" spielt (einerseits "nicht gehört", andererseits "ungehörig"). Im englischen Original heißt der Roman "10 Minutes 38 Seconds In This Strange World". Das bezieht sich darauf, das Elif Shafak in ihrem Buch von den gut zehn Minuten nach dem Tod ihrer Ich-Erzählerin, der Prostituierten "Tequila Leila" erzählt, die brutal ermordet und in einer Mülltonne deponiert wurde.

In dieser Zeitspanne, in der das Gehirn, wie man sagt, offenbar noch weiterarbeitet, fliegen Leila Bruchstücke von Erinnerungen zu – an ihr eigenes Leben und an das Leben ihrer fünf engsten Freunde: Da ist Sinan, genannt "Sabotage Sinan", ihr erster und einziger Freund, ihre Zuflucht seit Kindertagen; "Nostalgie Nalan", die Transfrau, die lange Osman hieß und nach Istanbul gekommen ist, um endlich auch körperlich eine Frau zu sein; da ist Jamila, die Sexsklavin aus Somalia, die sich mit falschen Versprechungen als Flüchtling nach Istanbul locken ließ; da ist "Zaynab122", die Kleinwüchsige aus den hohen Bergen des Nordlibanon; und da ist "Hollywood Humeyra", die der Ehe mit einem gewalttätigen Mann entflohen ist und sich in Istanbul als Nachtclubsängerin durchschlägt – ständig in Angst vor einem Ehrenmord. Sie alle sind Gescheiterte, Ausgestoßene, Geächtete in einer von Gewalt, Unterdrückung und Bigotterie geprägten Gesellschaft. Istanbul, die Stadt der Träume und Hoffnungen, hat sich für sie als Ort des Scheiterns und der Enttäuschungen erwiesen.

"Die Idee dazu", erzählte Elif Shafak nach Erscheinen des Romans in einem Interview für die Neue Zürcher Zeitung, "kam mir auf einem Friedhof etwas außerhalb von Istanbul. Die Menschen, die dort begraben sind, wurden oft von ihren Familien verstoßen. Viele von ihnen starben an Aids, man findet LGBT-Angehörige, Prostituierte, Transgender-Sexarbeiter, auch Selbstmörder, ausgesetzte Babys und mittlerweile auch viele Flüchtlinge, die beim Versuch, nach Europa zu gelangen, in der Adria oder im Schwarzen Meer ertrunken sind. Auf diesem Friedhof gibt es keine Inschriften, die meisten Gräber haben nur Nummern auf hölzernen Tafeln. Es ist ein Ort, der Menschen in Nummern verwandelt. Ich wollte diesen Nummern einen Namen und eine Geschichte geben."

Wenn Sie Lust haben, sich mit uns über diesen sehr lesenswerten Roman auszutauschen, melden Sie sich bitte an.

Die weiteren Romane auf unserer Leseliste:

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne (17. September)
Ahmet Ümit: Patasana (15. Oktober)
Nedim Gürsel: Der Sohn des Hauptmanns (19. November)
Mario Levi: Istanbul war ein Märchen (17. Dezember)