Trostbrücke 4, 2. Stock
Gesellschaftsraum
20457 Hamburg
Deutschland
Einführung und Moderation: Detlef Rönfeldt (Sprecher des Lesekreises)
Wenn wir uns am 18. März zum dritten Mal in diesem Jahr versammeln, um über türkische Literatur zu sprechen, wollen wir uns mit einem Buch beschäftigen, das im Herbst 2024 im Suhrkamp-Verlag erschien, von den Kritikern einhellig als große literarische Entdeckung gefeiert wurde und auf Platz 1 der Bestenliste des SWR landete: Tezer Özlüs Roman "Suche nach den Spuren eines Selbstmordes", 1982 auf Deutsch geschrieben, bislang aber nur in türkischer Übersetzung erschienen und jetzt erstmals in der deutschen Originalfassung veröffentlicht – mehr als vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung.
Auf dem Literaturblog "literaturkritik.de" schrieb Nora Eckert zu diesem Buch: "Ich gestehe, es war ein zufälliger Griff in die Buchauslage, aber beim Durchblättern und Reinlesen blieb ich an diesem Text hängen und wollte das Buch nicht mehr aus der Hand geben. Mit dem Lesen wuchs das Staunen – ein Staunen in vielerlei Hinsicht. Ich gestehe ebenso, dass ich im ersten Moment glaubte, dieser Roman sei gerade erst geschrieben worden, um aber rasch zu erkennen, nein, geschrieben wurde er bereits vor mehr als vierzig Jahren – und die Autorin lebt schon lange nicht mehr. Sie starb 1986 und viel zu jung. Sie war da gerade erst 42 Jahre alt."
Geboren wurde Tezer Özlü 1943 in Anatolien. In Istanbul besuchte sie das St.Georgs-Kolleg, eine österreichische Bildungseinrichtung. Mit zwanzig begann sie zu schreiben und zu übersetzen. Vor allem Franz Kafka, Italo Svevo und Cesare Pavese, deren Werke sie ins Türkische übersetzt, werden zu ihren literarischen Lichtgestalten. "Suche nach den Spuren eines Selbstmordes" schreibt sie, als sie Anfang der 1980er Jahre als DAAD-Stipendiatin in Berlin ist. Der Roman trägt den Untertitel "Variationen über Cesare Pavese" und er ist so etwas wie das Tagebuch einer Reise auf den Spuren von Kafka, Svevo und Pavese, die Tezer Özlü – gequält von höllischen Zahnschmerzen – von Berlin aus unternimmt, als die Stadt noch geteilt war. "Dass sie dabei gewissermaßen dem Tod hinterherreist, indem sie Kafkas Grab in Prag, Svevos Grab und Wohnhaus in Triest und in Turin das Hotelzimmer aufsucht, in dem Pavese sich das Leben nahm, erzeugt eine seltsame Spannung, weil sich die Beziehungen der Erzählerin zu den Toten mit ausgesprochen lustvoll erlebten Beziehungen zu sehr lebendigen Männern vermischen", heißt es in der Besprechung von Nora Eckert.
Der Roman ist eine tiefgründige poetische Reflexion über Liebe und Schmerz, Leben und Sterben. Vor allem ist er ein Buch über Literatur und die Menschen, die sie erschaffen. Immer wieder zitiert Tezer Özlü Pavese, in dem sie sich und ihre Haltung zur Welt offenbar wiedererkennt. "Mut geben mir nur die Toten", schreibt sie. "Die Toten, in deren Beschreibungen ich lebe. Die Toten, die als Einzige aus dieser verdammten Welt eine liebenswerte machen. Die Toten, die alles gegeben haben, was die Welt braucht."
Er ist aber auch die Geschichte einer Befreiung – von den Leiden an der Liebe, von sich selbst, den Grenzen, die ihr als Frau gesetzt sind, und von der Literatur. In Turin, der letzten Station ihrer Reise, mietet sie sich im Hotel Roma ein und wohnt im Zimmer 305, in dem sich Cesare Pavese umgebracht hat. "Das Zimmer ist ein Sarg", schreibt sie. Und: "Ich komme von den Gräbern meiner literarischen Welt." Sie würde gern aufhören damit, in der Literatur zu leben, weil ihr das Leben so viel lebendiger zu sein scheint. Aber gelingt es ihr? Ist das überhaupt erstrebenswert? "Dieser Roman ist Literatur über Literatur", schreibt Nora Eckert, "tiefgründig, wild, verliebt, von einer Sinnlichkeit, die den Schmerz nicht scheut. Özlü zeigt, wie man unablässig in Gedanken leben kann und wie daraus lauter Wirklichkeitsfragmente entstehen."
"Unverständlich jedenfalls" – ergänzt Juliane Liebert, die das Buch für die ZEIT besprochen hat, "dass der Text bisher nicht auf Deutsch erschienen ist. Er muss sich vor der kanonisierten Literatur seiner Zeit nicht verstecken. Denn er strahlt – im Streifen und Driften durch die Stadträume und Kulturgeschichten, über die Ländergrenzen hinweg, mit dem Werk eines depressiven Dichters als emotionalem Kompass – eine Weltläufigkeit aus, die man dem Achtziger-Jahre-Deutschland kaum zugetraut hätte."
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Die nächsten Bücher auf unserer Leseliste–
Zülfü
Livaneli: Der Fischer und der Sohn (15. April)
Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau (20. Mai)
Nazım Hikmet: Die Romantiker (17. Juni)
Hakan Günday: Flucht (16. September)
Perihan Mağden: Zwei Mädchen (21. Oktober)
Aslı Erdoğan: Requiem für eine verlorene Stadt (18. November)
Orhan Pamuk: Schnee (16. Dezember)